Dir, lieber Knut, seien diese Kindheitserinnerungen zum 24. März 1926 gewidmet von Deiner Grossmutter
Marie Knudsen geb. Rode
Freiberg/Sachsen ca. 1860 – 1870
Das alte Haus am Obermarkt Nr. 5 in der guten alten Bergstadt Freiberg war Großmutters Geburtshaus und ein echtes liebes Heim für die Eltern und uns sieben Geschwister, von denen ich das Nesthäkchen, d.h. die jüngste war. Es hatte zwei Stockwerke außer dem ersten, in dem sich die Contore befanden, und fünf hohe Dachböden übereinander.
Auf den unteren verstiegen wir Kinder uns zuweilen, denn die Mädchen hatten da ihr Stübchen, aber ohne Ofen war es im Winter bitter kalt, da nahmen sie sich einen Wärmestein mit ins Bett. Die Treppe hinauf war finster, und eine Stufe hat ein Loch, Waren wir da glücklich hinüber und sagen das Tageslicht wieder, freuten wir uns ob der überstandenen Gefahr. In einer Ecke stand eine große Kiste mit Briefumschlägen, von denen wir die Marken sammelten.
Die oberen Böden wurden nur bei Feueralarm bestiegen, damit man den Brand beobachten konnte, denn aus den Fenstern sah man weit hinaus ins flache Land.
Es war leer in den weiten Räumen, das Gerümpel wie z.B. eine Pyramide von nach oben sich verjüngenden Brettchen, an den Ecken mit Lichthaltern versehen, die vormals statt eines Christbaums angeputzt gewesen war, und die man uns drohte Weihnacht wieder herunter zu holen, dergleichen alle Dinge waren in einer Kammer zusammengesetzt. Hörte man ein Rascheln so hieß es, das ein Marder wohl sein Wesen treibe. In der Größe eines Fuchses stellte ich mir ein solches Tier vor und das war ein bisschen zum Gruseln.
Meine Genossin war meine liebe Schwester Martha, oft auch Myrthe genannt, geboren den 4.4.1855. Mein Geburtstag war am 22.12.1856.
Im zweiten Stock befand sich ein großes lichtes Zimmer, dessen drei Fenster nach dem Marktplatz gingen, hier wurde die Weihnachtsfeier abgehalten. Daneben war das lange einfenstrige Knabenzimmer mit einem großen Alcoven, indem die drei Betten der Brüder standen. Ein Alcoven ist eine Stube ohne Fenster, die das Licht nur durch eine breite doppelte Glastüre erhält. Zum Hof hinaus befanden sich zwei Gastzimmer. Der Vorplatz war groß wie ein Tanzsaal. Von diesem ging ein langer Gang nach dem Hinterhaus. Über diesen und den darunter gelegenen, über die Treppen des Vorder- und des Hinterhauses, hielten wir nach Tisch, wenn es stille im Zimmer sein musste, eine Hetzjagd, so genannt, weil die eine von uns sich versteckt hielt, während die andere schleichend und rennend erstere aufstöbern und fangen sollte, wobei es nicht absolut ruhig zuging.
Im ersten Stock waren nach vorn 3 Zimmer, das rechte und linke lang und schmal mit einem Fenster, der Salon in der Mitte etwas kürzer und zweifenstrig. Hier wurde sonntags Nachmittag der einladenden Kaffeetisch gedeckt und alle drei Zimmer waren belebt wenn die Brüder, und später auch Schwager, daheim waren. Links war das Wohn und Esszimmer mit den Kirschbaummöbeln, dem Secretair und dem großen Lehnstuhl in der Ecke und dem Tritt am Fenster auf dem Mutters großer Nähtisch mit Stuhl stand, und war hinter den weißen Vorhängen in der Fensternische, die von den dicken Mauern gebildet war. So bildete der Tritt noch ein niedriges Bänkchen im Winkel hinter dem Sekretär. Dies war mein Lieblingssitz, wenn ich mich den Blicken der Menschheit entziehen wollte, denn ganz heimlich steckte ich da den Daumen in den Mund, Kuppeln nannte man diese erfreuliche Beschäftigung. Ich fand es köstlich (vielleicht ist Knut darin einig), in meiner Ecke so vor mich hin zu träumen. Natürlich war ich da noch recht klein und dumm. So war es abends auch recht angenehm ungestört mit dem Finger einschlafen zu können, ohne Neckereien und Ermahnungen der Grossen. Einmal brach doch ein langer junger Mensch hinter dem Ofen hervor, zeigte dann freilich nur sein liebes lachendes Gesicht, der Bruder Albert.
Das Zimmer links gehörte stets der ältesten Tochter im Hause. Hier hatte sie ihren Nähtisch, eine damals noch selten gesehene Nähmaschine und ein tafelförmiges Klavier, welches später durch einen Flügel verdrängt wurde. Ein Alcoven mit Glastüren verband das Wohnzimmer mit dem unendlich langen Schlafzimmer, dessen Fenster nach dem Hof ging. Hinter gelben, mit schwarzen Punkten versehenen Zuggardinen gab es noch eine nette Spielecke. Auf breitem Fensterbrett breiteten wir unsere Papierpuppenfamilien aus(Kaiser Wilhelm I mit Söhnen und Töchtern) dabei beobachteten wir was im Hofe vorging, z.B. die beiden alten Waschfrauen, die kleine dicke Weiganten und die lange dürre Kunzen. Wer müht sich heute wohl noch so wie diese getreuen. Sie schleppten die nasse Wäsche im Tragkorb auf dem Rücken zur Stadt hinaus an den Schwimmteich, wo sie sie schwemmten, dann auf der Wiese bleichten. Nachts wurde Wäsche bewacht und am anderen Tag, weiß wie Alabaster, wieder heim getragen.
Außer der Eltern, Marthas und meinem Bett, und den Dingen die noch zu einem Schlafzimmer gehören, stand da auch die große Puppenstube, die schließlich 40 Jahre später in Sulitjelma mit verbrannte. (Beschreibung der Puppenstube)
Verlassen wir diese Liliputaner so finden wir im großen Puppenwagen zwei blondgelockte blühende Kinder. Indem ich ihrer gedenke spüre ich den gelinden Wachsgeruch, den sie an sich trugen. Dass diese, ebenso wie die beiden großen Puppen mit deren Körper von feinem weißen Leder bezogen und den wohl kalten aber doch so lieben Porzellanköpfen, von uns heiß geliebt wurden, wird besonders Kjersti uns nachfühlen. Ich hoffe das meine Porzellanpuppen mit samt ihrer Garderobe, vor 60 Jahren von meiner lieben Schwester Helene angefertigt, heute noch bei ihrer dritten Mutter Dagny Dyck in Magdeburg sich ihres Daseins erfreuen.
Im Hause befand sich natürlich auch eine kleine aber feine und saubere Küche, deren Glastür ein Schiebefensterchen hatte, wie damals die Bäckerladen (die Semmeln wurden durchs Fensterchen verabreicht). Es spielten wir da auch „Verkaufen“ Abend wenn der Vorsaal durch die große Gasflamme hell erleuchtet war; auch stand die eine von uns an der Wand, war Hexe und musste die andere beim Vorüberlaufen fangen.
Auf dem äußeren Vorplatz stand tagelang unsere gute Mila mit dem Bügeleisen bewaffnet, dafür sorgend, dass es uns an frischen Sommerkleidchen niemals fehlte. Mila kam als mein Kindermädchen ins Haus und wurde uns nach und nach unentbehrlich. Sie war glütig und liebreich zu uns Kindern, Ihres Schutzes(Ich fürchte auch wenn wir uns im Unrecht befanden), waren wir sicher, bescheiden und fleißig, wusste sie mit Allem Bescheid. Meine Liebe zu ihr bewies ich schon als kleines Kind dadurch, dass ich Fleischbissen aus meinem Mund hinaus und in den ihren hineinsteckte. Mehr noch als ich es wohl vermochte liebte sie uns, hing treu der ganzen Familie an, freute sich mit ihr und weinte wenn Leid sie traf. Vorübergehend diente sie auf Schloss Freudenberg beim Verwalter dort. Da durften wir sie besuchen. Wir betraten die große Brücke, die zum Tore führte und sahen hinab in den Schlossgraben, der ehedem mit Wasser gefüllt gewesen und jetzt schön als Garten herausgeputzt war. In der Küche hatte Mila in einem Topf mit Watte kleine, eben aus dem Ei geschlüpfte Entchen, einfach süß waren die. Als junge Frau zog Mila mit ihrem Mann zu uns ins Hinterhaus, wo sie zwei Zimmer und Küche bekam. Ihr Mann, der Bergarbeiter Müller starb bald an einer Blutvergiftung. Mila blieb und war im Vorderhaus zur Hilfe da. Sie buk Kartoffelkeilchen(Käulchen) für uns. Abends sassen wir zuweilen mit an ihrem kleinen ???. Nie müde würden wir den Inhalt ihres Glasschranks zu bewundern. Da waren 6-8 paar Tassen mit goldenen Inschriften, den Hauptreiz bildenden doch zwei Nickepuppen mit Locken-Perücken, die wir stets von neuem anpufften, wenn sie mit dem Nicken nachliessen.
Aus dem Fenster sah man in einen hübschen Garten hinunter, der zum Nachbarhaus gehörte und in dem sich ein alter Mann mit seiner Ehehälfte zuweilen erging. Als wir erwachsen waren holte uns Mila von Bällen oder Gesellschaften ab, da zürnten wir ihr zuweilen, denn sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, das wir auch um die Stirne ein Tuch binden sollten, da wir erhitzt seien. Oft half kein Sträuben und wir mussten, entstellt durch das Stirnband, durch den Vorplatz gehen, wo die Herren uns noch gute Nacht wünschten.
Von meinem lieben Vater, Konrad Heinrich Christian Rode geboren 4. Februar 1812 zu Barmstedt in Holstein, sind mir nur wenige Züge in der Erinnerung haften geblieben. Morgens beim Ankleiden sang er wohl ein frommes Lied vor sich hin „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ oder andere. Tagsüber war er unten im Geschäft, vor dem Abendbrot ging er im Winter ein Stündchen in den „Hirsch“, wo die ersten Bürger der Stadt zusammentrafen. Euer Urgroßvater war bei allen beliebt und geschätzt und genoss ein hohes Ansehen, was bei seinem frühen Tod, er wurde 54 Jahre alt, so recht in die Erscheinung trat. Im Sommer aber kam er am Spätnachmittag sobald als möglich in seinen lieben Garten, dessen Anlage er selbst geleitet und eigenhändig wohl auch so manchen Baum gepflanzt hat.
Der Garten lag vor der Stadt an der Kinderwiese, die jetzt zum Albert Park umgewandelt ist. Damals war sie von Müttern mit Kindern belagert, die sich in Gruppen über die große Wiese verteilten und die schöne Zeit im Freien gewiss recht genossen. Aus dem Park mussten sie freilich verschwinden. Zogen wir in den Garten so überquerten wir erst den Obermarkt und seufzten über dessen kumpliches Pflaster, gingen die Waisenhaus Straße hinunter, da gab es ein Eckhaus, an dem ein steinerner Affe angebracht war, nach der Promenade und kamen an den Laubach, über den eine kleine Brücke zur Gartentür führte, die wir mit einem großen Schlüssel öffneten.
Als ich 1916 wieder nach Freiberg kam, war der Bach verschwunden und mit ihm die Brücke, der Garten verwachsen und gleichsam zusammengeschrumpft. Der Bach bildete an der Brücke einen kleinen schäumenden Kreisel, dem wir gern zusahen. Die Wasserverhältnisse waren demnach bescheidener als im ???. Im Garten hatten wir eine Pumpe, die reichlich Wasser gab und deren Schwengel wir gerne in Bewegung setzten. Von früh 7 Uhr bis zur Bettzeit, bei Regen und Sonnenschein war der Garten unseren Aufenthalt. Ein geräumiges Gartenhaus war da. Den Salon betrat man über eine Veranda, hinter derselben war noch ein Zimmerchen, in dem Mutter sogar einen Sommer mit Kind und Dienerin geschlafen haben soll, und eine winzige Küche, In der man Eier und Tee bereitete und die sogar einen kleinen Kellerraum aufwies. Ich dachte oft darüber nach oder träumte was ich zu tun hätte, wenn Räuber sich einzubrechen versuchten. Dazu war keine Gefahr, doch ist zweimal in der Mittagszeit die Tür zum Salon erbrochen worden und sind Messer, Gabeln, Servietten und dergleichen gestohlen worden. Das Mittagessen wurde in der Stadt eingenommen, aber den Nachmittagskaffee nahm man schon wieder draußen ein, und des Abends konnte man sich an dem großen runden Tisch versammeln. Oft zogen Gewitter über uns in, da prasselte der Regen aufs Dach, die Luft kühlt ab und duftete nachher so köstlich. Später kam der Klemm, der Hausdiener, aus der Stadt mit Regenmäntel und einen Arm voll Schirmen. So führten wir Kinder ein sorgloses Dasein in diesem kleinen Paradies. Um den großen Grasplatz, der am Rande hin mit Blumenbeeten, einzelnen Ziersträuchern, Hänge- und Hochstammrosen besetzt war, zog sich der Weg herum, an einer Seite in eine Laube der Traueresche, ausmündent. Das Häuschen lag oben in der Mitte, rechts davon der Berg. Über dessen Mauer hinweg sahen wir über Wiesen und Felder bis an den „Schirmer Wald“.
In einem Kaffeegarten weit draußen sahen wir einmal Seiltänzer auf dem Seile tanzen. Direkt unter der Mauer ging ein Seiler, seine Taue drehend. Rechts sahen wir in den großen Nachbargarten, der heutzutage bebaut ist. Auf dem Berg standen Bänke. Wie hoch war er wohl? Seine 3-4 m wird er wohl gehabt haben. Seine Brüstung war mit Ahornbäumen und Epheu bepflanzt. Unterhalb war der Turnplatz mit Reck und Barren, einer Schaukel, Wippe genannt für zwei Personen gleichsam eine horizontal aufgelegte Leiter, auf deren beiden Enden je ein Kind saß, mit den Füßen abstieß und dann hinauf schnellte während das andere hinunter fuhr. Später kam ein Kegelspiel dazu, die Kugel hing an langer Kette und musste in großem Bogen geworfen, auf ihrem Rückweg in die Kegel hineinprasseln. Da spielten auch die Großen oft stundenlang mit, auf einer Tafel wurde aufgeschrieben was die eine Partei gewann, die andere verlor.
Mit den Puppen richteten wir uns herrlich gemütlich auf der Mauer ein, die den Nachbargarten begrenzte, blühende Sträucher Jasmin, Flieder und Schneeball verbargen uns beiderseitig vor den Blicken und strömten süßen Duft aus.
Das erste Fest feierten wir alljährlich im Garten am 4. Mai, unserer Myrthe Geburtstag. Kindergesellschaft, viel Kuchen, viele fröhliche Spiele. Mein ruhiges, friedliches Schwesterlein war bei allen beliebt und sie liebte und bemutterte mich. Zu Vaters Geburtstag brachten wir unsere Glückwünsche in Versen dar, die sauber auf einen großen, Blumen gezierten Briefbogen geschrieben waren. Einmal hab ich Vater erzürnt und bekam meine Schläge. Martha und ich spazierten in den Anlagen beim Schwedendenkmal, hatten neue Wollkleider an und ich blieb an einem Geländer hängen und riss das Kleid kaputt; Obwohl ich das Kleid wechselte kam die Sache doch bald ans Licht und hatte so schlimmen Nachklang für mich.
Hinter dem Denkmal war der Schneckenberg, der unsere Rodelbahn abgab. Dass der nicht zu hoch und gefahrdrohend war ergibt schon sein Name. Schlittschuh laufen betrieben wir auf den Kreuzteichen, in späteren Jahren zuweilen bei herrlichster Militärmusik. Die Winter waren streng, viel Schnee und starker Frost, liegt doch Freiberg auf einer 400 Meter hohen Hochebene.
Vater hatte ein Ehrenamt als Grubenvorsteher. Unter der Stadt gab es nämlich Stollen und Schächte, aus denen seit Jahrhunderten reiche Silberschätze zu Tage gefördert wurden von einigen tausend Bergleuten. Die Silbererze wurden auf den weltberühmten Muldner Hütten, die auch die höchste Esse der Welt aufzuweisen haben, geschmolzen. Im Sommer fuhren wir alljährlich mit den Eltern einmal nach den Gruben. Hinunter stiegen wir nicht, Es war da ein so genanntes Huthaus, dort bekamen wir unter großen Bäumen unser Vesperbrot, Milch, dicke Schwarzbrotscheiben und Käse was prachtvoll mundete. Auch wurden Spazierfahrten nach dem Schirmerwald unternommen, stets bis dicht ans Zollhaus, worum umgekehrt wurde.
Mit einer großen gelben Postkutsche fuhr ich allein bis Chemnitz, wo Schwester Helene seit ihrer Verheiratung mit Schwager Richard Dietrich wohnte. Der Postillon, einen hohen Zylinderhut auf dem Kopfe, im gelben Rock, auf dem die Trompete an einer Schnur herunter hing, blies bei der Abfahrt ein lustiges Stückchen. Dem Schaffner übergab man Zigarren, damit er mich behüten solle; die Fahrt währte wohl 7 Stunden und ermüdet mich doch zuletzt, war doch der Wagen geschlossen und bewegte sich nur langsam. Auf einer Zwischenstation, in Oederan, konnte man aussteigen und in die Gaststube gehen, die mir ebenso langweilig vorkam, da ich ja keinen Bierdurst hatte. Dietrichs wohnten in einem großen Haus des Fabrikbesitzers Pornitz. Da machten wir die Bekanntschaft der Söhne Horst und Ullrich, die uns damit unterhielten, dass Sie uns auf einem Eselwagen im Hof herumführten, bis wir genug hatten.
Zwei mal durfte ich mit Mama nach der schönen Haupt und Residenzstadt Dresden zu Meinholds fahren. Mamas jüngste Schwester Hermine war mit Verlagsbuchhändler Theodor Meinhold verheiratet. Ihr großes Stadthaus befand sich in der Moritzstraße, die Sommervilla an der Elbe in der Blumenstraße, dicht bei der Vogelwiese, wo die Volksfeste abgehalten wurden. Hier war es herrlich, im Garten waren Laubgänge an denen die köstlichen Weintrauben hingen. Die älteren Cousinen Jenny und Käthe verzogen mich und trieben allerhand Allotria mit mir. So feuchteten sie einmal mein Haar mit Zuckerwasser an und flochten darauf 24 Zöpfchen, mit der Folge dass ich mehrere Tage nicht auf die Straße gehen konnte, weil die Haare gleich einer Riesenmähne mir vom Kopfe standen.
Die denkwürdigste Begebenheit war mein erster Besuch des Hoftheaters, wo ein Feenmärchen aufgeführt wurde mit Tänzen und lebenden Bildern, welches mich wahrhaftig in das Märchenreich der Feen und Elfen versetzte. Ich war bezaubert. Auch die Stadt mit den herrlichen Gebäuden machte einen überwältigenden Eindruck auf mich, so dass mein Vaterstädtchen bei meiner Rückkehr mir gar altmodisch vorkam.
Das Stadthaus wurde im ersten Stock von Onkel Theodor gewohnt, im zweiten und dritten je einem seiner Brüder, im vierten von seinen Schwestern, und nannten wir diese die „ein zwei drei und viertrepplichen“. Letztere hatten bei Dresden einen Weinberg und dort verlebte ich mit Käthe die Weinlese, das Pflücken und Pressen der Trauben. Die Winzer schnitten die Trauben ab und füllten sie in hohe hölzerne Bütten. Dann hörte man ihren Ruf: „Bütte voll“ und darauf wurde die Bütte die steinernen Stufen hinunter zur Presse getragen. Der Most konnte darauf sogleich gekostet werden. Beeren ass man so viel man nur konnte.
Auf der Elbe mit den Räderdampfschiffen fuhren wir nach Loschwitz und Wachwitz, wo wir Mamas ältere Schwestern Mehners und Brückners besuchten. Wir sahen die Berge der sächsischen Schweiz, die ich zehn Jahre später mit meinem Bräutigam, Euren Großvater in Gesellschaft Tante Meinholds und Cousine Marie Rode’s aus Hamburg bereisen durfte. Auch wurde mir das Vaterhaus meiner Mutter gezeigt, was meinen Großvater Liersch gehört hatte, ein Eckhaus auf dem Postplatz später Restauration Waldschlösschen.
1866 wurde das 100-jährige Bestehen der Bergakademie festlich gefeiert. (Nach 50 Jahren konnte ich mit Großvater das 150. Jubiläum der Akademie wieder miterleben und feiern)
König Johann gab dem Fest die Weihe. Weiß gekleidet mit grünseidenen Schärpen also in den Landesfarben, bevölkerten wir Kinder zu beiden Seiten die Stufen des Rathauses, auf denen der König hinauf schritt. Von den Fenstern des Rathauses nahm der König die große Parade der Bergleute in Augenschein. Da marschierten die tausende der Berg- und Hüttenleute mit ihrem Vorgesetzten in ihren malerischen festtäglichen Trachten auf. Hauer und Knappen, Schmelzer und Helfer. Streiks kannte man damals nicht, es war ein gutes patriarchalisches Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Arbeiter. Erstere hatten recht altmodische Titel zum Beispiel „Obereinfahrer“ (später Oberbergrat) „Hüttenreuter“ und dergleichen. Abends gab es Fackelzüge der Studenten, Illumination der Fenster und Häuser und so weiter.
Das Rathaus lag rechter Hand gegenüber unserem Haus mit seinem Turm und der großen Uhr, die wir also bei unserer Zeiteinteilung vor Augen halten. Da war auch die Hauptwache, abgegrenzt durch eiserne Ketten, auf denen ich gern mal geschaukelt hätte, wie es andere Kinder wohl wagten.
Vor diesem lag der Stein des Kunz von Kauffinger auf dem vor 500 Jahren der Ritter Kunz von Kauffingen enthauptet wurde, weil der die zwei Söhne des Kurfürsten und deren Kamerad geraubt hatte. Man konnte ihm die Knaben wieder entreißen und ihn gefangen nehmen. Sobald wir auswärtige Gäste bekamen, zeigten wir Ihnen sogleich den Stein und unterliessen nicht ihnen die Geschichte der Prinzen Ernst und Albert und des bösen Ritters recht schauerlich darzustellen. Darauf zogen wir mit unseren Gästen zum Dom, dessen goldene Pforte viel bewundert wurde, so wie die so genannte Teufels- Kanzel, die prachtvoll mit Rauken und Arabesken in Stein ausgehauen ist. Dann erging man sich in den herrlichen Promenaden und Alleen die sich rings um die Stadt ziehen, teilweise auf den alten Festungswällen. Die tiefen Gräben, außerhalb der Festungsmauern, denn Freiberg war eine starke Festung, die von den Schweden ein ganzes Jahr belagert wurde im 30-jährigen Krieg, die Gräben waren zum Teil zugefüllt und bepflanzt worden. Auch standen gen Osten noch Festungsmauern mit starken Türmen. Wo Türme und Mauern verschwunden waren, hatte man noch den Gebrauch zu sagen „Ich gehe vors Erbische Tor, vors Peters- oder Burgtor und so weiter. Bei der Belagerung durch die Schweden entdeckten diese zuletzt eine halbkreisförmige Öffnung in der Mauer, durch die Wasser in den Graben abfloss. Durch dieses Loch sollen die schwedischen Soldaten hindurchgekrochen und in die Stadt eingedrungen sein. Man erzählte auch ein Bergmann habe innerhalb der Mauer Wache gehalten, den Schweden, die nur einzeln durchkriechen konnten, die Köpfe abgehauen und den Körper weggezogen bis die Schweden merkten, dass es den Eindringlingen schlecht erging.
Noch waren unsere Sehenswürdigkeiten nicht erschöpft, da war das Schwedendenkmal vorm PetersTor, etwas weiter die große Linde hinter welcher der schwedische Feldherr Thorstenson Deckung gefunden hatte vor den Kugeln aus der Festung. Dann aus friedlicheren Zeiten stammte das Werner Denkmal und Herders Grab, letzteres außerhalb der Stadt auf einem Hügel.
Die Mutigen und Wissbegierigen unterliessen nicht das unterirdische Reich, die Bergwerke, zu befahren. Sie mussten dann Bergmannstracht anlegen; die Grubenlampe am Gürtel befestigt, stiegen Sie unter Führung eines Steigers die Leitern hinab in die finstere Tiefe. Auch die Muldner Hütten wurden besucht.
Spaziergänge machte die Schuljugend mit ihren Lehrern nach Fernesiechen, der Ölmühle, dem Zechenteich u.s.w.; später als die Bahn gebaut war nach „Echte Krone“, Tharandt u.s.w.
Ostern 1862 kam ich zur Schule, dessen untersten Klasse von einem alten Lehrer, Herrn Nuster, geleitet wurde. Alle freuten wir uns auf den ersten Schultag, die Freude galt vor allem der Zuckertüte, die Herr Nuster einem jeden Kind feierlich überreichte, die aber ihm von den Müttern übergeben worden war. Einige der kleinen Mädchen könnten das „ch“ nicht aussprechen; ich erinnere dass Herr N. den kleinen Unbeholfnen seinen Griffel auf die Zunge legte und freute ich mich, dass ich dieser Hilfe nicht bedurfte. Zuweilen kam Diaconus Teichgräber um dem Unterricht beizuwohnen. Er war wohl seine zwei Meter lang, dürr und mager. Er hatte die Gewohnheit auf seinem Stuhl zu wippen, was ihn denn auch einmal zu Fall gebracht haben soll. An Herrn Nusters Geburtstag wurden sämtliche Schulkinder in sein Haus geladen, reichlich mit Kaffee und Kuchen bewirtet um dann fröhlich in Haus und Garten herum zu spielen. Zu einem Geschenk war vorher eingesammelt worden und hatte man bei Frau Nuster angefragt mit was der Herr Lehrer wohl zu erfreuen sein. Bald erhielt er denn einen Rock, einen Lehnstuhl oder dergleichen mehr.
Die Wissenschaft hatten auch in den höheren Klassen Ruhe vor uns, da auch der andere bedeutendere Lehrer Dr. theol. Barth sehr viel die Schule versäumte. So wurde unser Geist nichtbeschwert, allmählich reifte aber ein Wissensdurst, der erst im Institut in Dresden 1870 und 1871 bei vortrefflichem Unterricht seine volle Befriedigung fand. Das Institut Leonardi lag in der Christian Straße Nr. 27.
Wir waren gegen 20 ??? und einige hundert besuchten den Unterricht, der von ersten Kräften erteilt wurde, und mich vollständig fesselte. Ich erwarb mir liebe treue Freundinnen, die ich auch nach der Pension Zeit besuchen durfte, vor allen Ella Law, die später unter dem Namen Tante Ella meine Kinder bei ihrem Dresdener Aufenthalt mit Rat und Tat unterstützte.
In der Villa in Wachwitz, aus deren Garten sich ein kleiner Weinberg erhob, verlebten wir fröhliche Tage mit Baden in der Elbe, Criquet spielen etc. Nicht minder gemütlich war’s in der Winterwohnung in der Stadt, wo ich alljährlich Ella zu ihrem Geburtstag am 30.11. besuchen durfte und acht Tage bei ihr und ihrer hochverehrten Mutter verweilte.
Ehe ich diese Erinnerungen beschließe gedenke ich noch in Liebe und Dankbarkeit meiner Mutter Ottilie Rohde geborene Liersch, geb. den 25. Juli 1821 Uhr gestorben den 7. April 1888 an einer furchtbaren Krankheit, die sie zwölf Jahre lang in größter Geduld ertrug.
Der Großvater Liersch soll ein sehr gestrenger Herr gewesen sein, die jungen Mädchen kamen ohne Begleitung nicht auf die Straße im Haus mussten sie sich lautlos bewegen, und die Spazierfahrten bei denen auf dem Lande eingekehrt wurde, unternahm Großvater nach vollständig einsam und entlegenen Orten. Da war es denn für Ottilie recht angenehm, das sie in Freiberg eine verheiratete Schwester besuchen konnte. Bei ihr und ihrem Mann „Pässler“ lernte sie denn ihren zukünftigen Mann kennen, den sie dann auch, nachdem ihr Vater alle Verhältnisse genau geprüft hatte, im Jahre 1839 heiraten durfte.
Vater hatte eine große Verwandtschaft in Hamburg und Holstein, mit der wir stets sehr innig verbunden geblieben sind. So kamen 1864 zu silbernen Hochzeit der Eltern am 15. Oktober Onkel und Tanten zur Feier aus Hamburg. Ich liebte besonders Papas Schwester Tante Luise Lemmerich und seinen jüngsten Bruder Fritz, der meinen Papa so ähnlich war, dass ich ihn nicht nicht ohne Rührung nach Papas Tod sehen konnte. Meine liebe Mutter widmete sich vollständig ihrem Heim, Ihrem Heinrich und ihren Kindern. Ihr Sinn für Ordnung und guten Geschmack bewirkte wohl, dass wir Kinder, Wie man zusagen pflegt, eine gute Kinderstube gehabt haben, wie es übrigens in unseren Kreisen üblich war. Meine drei Brüder verlebten ihre Schulzeit in der Pension Krause in Dresden und waren nur in den Ferien daheim. Theo studierte dann an der Bergakademie und wohnte zu Hause. Ich schloss mich innig an und war beglückt, wenn er des Abends mit mir Puff (auf dem Damenbrett) spielte. Ich war seine Tupp und er mein Putt. Albert kam auf Rittergut in der Nähe von Freiberg als Scholar. Obgleich er sich der Landwirtschaft widmete, blieb er stets, auch in seiner äußeren Erscheinung der tadellose feine Mann. In Freiberg diente er sein Freiwilligenjahr ab und avancierte zum Leutnant, kämpfte 1870-71 gegen die Franzosen und kam unversehrt als Hauptmann zurück.
Beide Brüder hatten einen lieben Freund, Horst von Hagen, der auch viel bei uns in der Familie war, leider früh starb. Unsere Myrthe kam eines Tages aus der Schule nach Hause, öffnete die Wohnzimmertür, sah Hagen und warf die Tür mit einem „Gott nee Hagen“ wieder ins Schloss. Seitdem musste sie das „Gott nee Hagen“ immer wieder hören.
1866 hatten wir Preußische Soldaten und Offiziere als Einquartierung im Haus. Ich ging gern zu den ansehnlichen Leuten und verehrte einen großen Blonden zum Abschied Bechsteins Märchen; während Myrthe heiße Tränen um den Hauptmann (er hiess von Stülpnagel) weinte.
Einmal hatten wir Besuch von einer Russin, einer entfernten Tante Mielck aus Petersburg. Sie wollte stets fahren, auch die kürzesten Wege, was in Freiberg nicht Sitte war. Ihr Sohn studierte in Leipzig und verlebte Weihnacht bei uns, Ich erinnere von ihm nur dass er vom Tannenbaum die große Schure aus Zucker ganz allein aufass, was ich sehr unbescheiden fand. Junge Amerikaner, die Empfehlungsbriefe an Papa dabei hatten, verkehrten auch in unserem Hause.
Einen Sommermonat, als Mutter mit Schwester Doris eine Badereise unternahm, und Myrthe wohl in Chemnitz bei Lene war gab Mutter mich zu meiner Cousine Lieschen Tittel, wo ich es gut hatte. Im selben Haus wohnte meine liebe Freundin und Cousine Gretchen Heim, mit dir ich mich im Garten zusammenfand. Meine Kindheitserinnerungen finden hier ihren Abschluss, doch will ich noch das freudige Ereignis, das mich zum ersten Male zur Tante stempelte erwähnen, als nämlich am 19. August 1870 Schwester Helene ihr erstes Kindlein, das süße Lenchen, bekam. Überglücklich aber waren wir erst als Mutter mit den Kindchen zu Weihnacht uns besuchten.
Ich rufe dem Nachwuchs ein „Glück auf“ zu, den Freiberger Bergmannsgruß